Nun (endlich!) zum zweiten Schritt von Joanna Macys Active-Hope-Spirale. Sie nennt ihn „Unseren Schmerz um die Welt würdigen“. Joanna Macy ist ja eine Vertreterin der Tiefenökologie – deshalb geht es bei ihr immer um den Zustand unserer Welt – aber ich finde so faszinierend, dass sie eine interessante didaktische Struktur bietet, die grundsätzlich für Bildungsarbeit tauglich ist, auch ohne tiefenökologischen Kontext. Ich kürze also die Bezeichnung für den zweiten Schritt auf „Den Schmerz würdigen“.
Grundsätzlich versuchen Menschen ja, alles Negative – und erst recht Schmerz – zu vermeiden, meist durch weglaufen oder betäuben. Das dämpft allerdings unsere Kraft, zu handeln und es schwächt auch unsere Widerstandsfähigkeit. Gerne wird so getan, dass man sich möglichst (nur) mit Positivem umgeben solle, um resilienter zu werden. Doch das ist ein Trugschluss. Gerade die Mechanismen, dem Schmerz auszuweichen, sind auf lange Sicht oft ungesund.
Joanna Macy ermutigt:
„Wir haben durchgängig die Erfahrung gemacht, dass die Menschen dann, wenn sie sich dem Strom ihres emotionalen Erlebens öffnen – sei es der Verzweiflung, Trauer, Schuld, Wut oder Angst -, das Gefühl haben, eine Last würde ihnen von den Schultern fallen. Auf der Reise in den Schmerz verlagert sich etwas Grundlegendes, es tritt eine Wende ein.
Wenn wir in unsere Tiefe hinabtauchen, stellen wir fest, dass sie nicht bodenlos ist“ (Macy/Johnstone, Hoffnung durch Handeln, S. 74).
Damit sind wir bei dem entscheidenden Punkt: Trauer hat eine verwandelnde Kraft. Doch damit diese Kraft wirksam werden kann, braucht es eine Kultur des Trauerns, die in unserem Mainstream leider oft unüblich ist.
Der Trauernde darf seine Trauer nicht nur zulassen, sondern sie auch ausdrücken. Er darf sie zeigen, vor anderen, denn sie will gesehen werden.
Joanna Macy zitiert hierzu eine Stelle aus dem Parzival-Epos. Parzival kommt zum ersten Mal in die Gralsburg und sieht König Anfortas an einer Wunde leiden. Er spricht ihn aber aus Höflichkeit nicht darauf an. Etliche Jahre und Abenteuer später kehrt er zur Burg zurück, sieht den König noch mehr leiden und stellt dann die naheliegende Frage:
„Oheim, sag, was quält dich so?“
Der König wurde in seinem Leid gesehen – und ward gesund. Dies ist die Aufgabe der Anderen: Das Leid, den Schmerz, die Trauer zu sehen.
Der eine zeigt, der andere sieht. Viel mehr ist es nicht. Doch stattdessen ist es bei uns üblich, dass der eine die Tiefe des Schmerzes versteckt, und der andere tröstet. Trösten ist aber in erster Linie der Versuch, die Situation zu kontrollieren. Denn indem ich tröste, setze ich das Setting und reguliere damit, wie viel ich an mich heran lasse. Trösten mag gut gemeint sein, ist aber in aller Regel Selbstschutz. Und hilft nicht. Trost kann nur erfahren, aber nicht gegeben werden.
Den Schmerz zu würdigen bedeutet zuzulassen, sich von ihm anrühren zu lassen – vom eigenen Schmerz und dem anderer – und hinzusehen. Ein christlicher Begriff dafür ist Compassion. Johann Baptist Metz, der diesen Begriff geprägt hat, nennt es auch die „Mystik der offenen Augen“.
Damit einher geht die Erkenntnis, das alles miteinander verbunden ist. Dies ist ja ein Kerngedanke der Tiefenökologie, der sich – etwas schwächer – auch im Christentum findet. Zumindest in mystischen und schöpfungsspirituellen Traditionen. Die Verbundenheit mit allem, was lebt, hat jüngst Papst Franziskus erfreulicher Weise betont.
Die Compassion und die Verbundenheit sind zentrale spirituelle Aspekte bei der Active-Hope-Spirale. Die Trauer, die sich zeigt, kommt ja gerade von der Liebe für das, worum man trauert. Das ist das Gute. Für Vivian Dittmar, die Gefühle als „soziale Kräfte“ interpretiert, liegt die Kraft der Trauer eben genau in der Liebe (wenn sie denn nicht in der Lähmung verharrt).
Macys Absicht entspricht dem, was Franziskus in „Laudato Si“ formuliert: „Das Ziel ist nicht, Informationen zu sammeln oder unsere Neugier zu befriedigen, sondern das, was der Welt widerfährt, schmerzlich zur Kenntnis zu nehmen, zu wagen, es in persönliches Leiden zu verwandeln, und so zu erkennen, welches der Beitrag ist, den jeder Einzelne leisten kann“ (Laudato Si, Ziffer 19).
Aber Macys Active-Hope-Spirale kann man wie bereits erwähnt auch ohne solch tiefenökologischen Bezüge nutzen, als Ansatz für Veränderungsprozesse. Und die Einbeziehung der Trauer ist gerade bei Transformationsarbeit wichtig. Doch das wird in eher „technisch“ oder „analytisch“ orientierten Change-Prozessen vernachlässigt bzw. ausgeblendet.
Also: Es geht darum, auch dem Schmerz, der Trauer oder einfach der Traurigkeit Raum zu geben – und zwar nicht zufällig sondern bewusst. Dies ist ein wichtiger und guter Schritt und keine „Störung“. Und was ist mit der Angst, darin stecken zu bleiben? Macy sieht dies recht gelassen: Das, was emotional in uns reinfließt, kann auch wieder rausfließen (S. 76).
Ganz wichtig in der Kindererziehung: Schmerz erstmal sehen, zulassen, würdigen, und nicht gleich „wegpusten“.
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Ja genau, absolut!
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