Exerzitien der Nächstenliebe: Der Beitrag von GFK, Naikan und The Work im Überblick

Jetzt ist es schon über vier Jahre her, dass ich meine Rezension über Michael Pflaums Exerzitien der Nächstenliebe geschrieben habe. Die Grundthese des Buchs: Die drei Wege Gewaltfreie Kommunikation (GFK), Naikan und The Work bieten ein gutes methodisches Rüstzeug, um das, was Jesus lehrte, im Alltag auch tatsächlich umsetzen zu können: sich selbst und den Nächsten zu lieben, nicht zu richten, zu vergeben.

In einer kleinen Übungsgruppe habe ich dann mit dem Exerzitien-Buch gearbeitet und dafür zusammengefasst, in welcher Weise die drei Wege einen Beitrag zur Umsetzung jesuanischer Ethik leisten. Die Zusammenstellung lag schon lange in meiner Schublade, nun will ich sie endlich hier noch in den Blog stellen. Es sind nur Stichpunkte und Voraussetzung zum Verstehen ist die Kenntnis der drei Wege.

Mittlerweile habe ich Michael Pflaum kennen- und schätzen gelernt. Er hat übrigens einen kleinen Ergänzungsband zu den Exerzitien der Nächstenliebe geschrieben und zudem die Exerzitien der Selbstliebe veröffentlicht, die ein neues Verständnis von Ego und Selbst in Rückgriff auf Richard Schwartz‘ „Inneres Familien System“ bieten.

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Liebesgebot

Jesus antwortete ihm:
»›Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben
mit deinem ganzen Herzen,
mit deiner ganzen Seele
und mit deinem ganzen Willen.‹
Dies ist das größte
und wichtigste Gebot.
Aber das zweite Gebot ist genauso wichtig:
›Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.‹«
(Matthäus 22,27-39)

GFK
Grundlegende Bedeutung der Empathie, 1. und 2. Säule der GFK.
Nächstenliebe: Die Bedürfnisse des Anderen sehen können. Giraffenohren nach außen.
Sebstliebe: Sich mit den eigenen Bedürfnissen verbinden können. Giraffenohren nach innen.

Naikan
Die beiden ersten Naikan-Fragen machen den Fluss des gegenseitigen Gebens und Nehmens deutlich.

The Work:
Die Umkehrung zum Anderen kann die Nächstenliebe fördern, die Umkehrung zu mir die Selbstliebe.

Die Goldene Regel

Genau so,
wie ihr behandelt werden wollt,
behandelt auch die anderen!
(Matthäus 7, 12a)

GFK
Gleichwertigkeit der Bedürfnisse – meine und die des Anderen. Beide Bedürfnisse gilt es zu würdigen.

Naikan
Gegenseitigkeit des Nehmens und Gebens (1. und 2. Naikan-Frage) und die Erkenntnis, dass ich dem Anderen auch Schwierigkeiten bereite (3. Naikan-Frage).

The Work:
Perspektivwechsel, der durch die drei Umkehrungen möglich werden kann. Durch die Umkehurung zum Anderen schaue ich mich vom Blickpunkt des Anderen an, durch die Umkehrung zu mir nehme ich Verantwortung für meine Bedüfnisse wahr.

Vergebung

Und vergib uns unsere Schuld,
denn auch wir vergeben allen,
die uns gegenüber schuldig werden.
(Lukas 11, 4)

GFK
Unterscheidung von Strategie und Bedürfnis: Die zur Verletzung führenden Strategien waren unangemessen, doch die zugrundeliegenden Bedürfnisse sind legitim.

Naikan
Naikan fördert die Dankbarkeit und die Dankbarkeit fördert wiederum die Voraussetzung, vergeben zu können.

The Work
Vergeben kann ich nur, wenn ich keinen Groll mehr hege. Durch den Work-Prozess kann der Groll meiner „Wolfssätze“ (GFK) bzw. der Groll über die nicht existente „4. Naikan-Frage“ aufgelöst werden.

Die Dinge sehen, wie sie sind und nicht, wie ich denke, dass sie seien.

Eine Voraussetzung für all das Genannte ist, dass ich versuche, die Dinge so zu sehen, wie sie sind – und nicht, wie ich meine, wie sie seien. Ich führe diesen Punkt auch noch hier auf, da er eine Qualität geistlicher Übung beschreibt.

GFK
Die zentrale Bedeutung des 1. Schritts (Unterscheidung von Beobachtung und Interpretation), auch die des 2. Schritts  (Unterscheidung von Gedanken und Gefühlen).

Naikan
Durch die systematische „Inventur“.

The Work
Ganz grundsätzlich: Das Erkennen meiner Projektionen.
Durch das Beharren der 2. Frage.

Active Hope – Hoffnung durch Handeln

Hier auf diesem Blog habe ich mich intensiv mit Joanna Macys „Active Hope“ beschäftigt. Daraus ist dann eine achtteilige Reihe entstanden, mit dem einen und anderen Nebenartikel. In einem Impulsvortrag im November 2020 habe ich Joanna Macys Ansatz vorgestellt und anschließend verschriftlicht. Für diejenigen, die das Ganze mal in einem Rutsch und gestrafft lesen möchten, veröffentliche ich diesen Impuls-Text als Ganzes hier im Blog.

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Beim erneuten Recherchieren ist mir dann aufgefallen, wie umfangreich mittlerweile die Sammlung von Übungen auf Joanna Macys Webseite „The Work that reconnects“ geworden ist. Ich habe mir vorgenommen, die Übungen einmal durchzugehen und auszuprobieren. Dazu werde ich im Frühsommer 2021 ein Seminar anbieten.

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„Und ja, wir brauchen Hoffnung, selbstverständlich brauchen wir sie. Aber eines, was wir noch dringender brauchen als Hoffnung, ist Handeln. Wenn wir anfangen zu handeln, ist überall Hoffnung. Also: Anstatt nach Hoffnung zu suchen, sucht nach konkretem Handeln. Dann und erst dann kommt die Hoffnung“ (Greta Thunberg beim TEDx Stockholm am 19. November 2019).

Greta Thunberg dreht die gängige Sichtweise auf Hoffnung um. Sie sagt nicht: Lasst uns die Hoffnung stärken, dann können wir besser handeln. Sondern: Fangt an zu handeln, dann kommt die Hoffnung. Und sie dreht nicht nur die Reihenfolge um, sie verknüpft es auch kausal: Die Hoffnung entsteht aus dem Handeln. Hoffnung durch Handeln.

Die gut 70 Jahre ältere Tiefenökologin Joanna Macy sagt dasselbe: „Hoffnung durch Handeln“. Joanna Macy ist die Grande Dame der amerikanischen Friedens- und Umweltbewegung – und sie sagt es natürlich auf englisch: „Active Hope“.

Active Hope

Joanna Macy arbeitet seit Jahrzehnten mit Menschen, die sich in der Friedens- und Nachhaltigkeitsarbeit engagieren. Und sie musste immer wieder erfahren, dass diese Menschen von dem, was ihnen in ihrem Engagement an schrecklichen Nachrichten, Katastrophen und Widerständen begegnete, emotional überflutet wurden. „Wie kann ich dem Chaos standhalten, ohne verrückt zu werden“ – so lautet auch der deutsche Untertitel von Macys Hauptwerk. Wo ist da noch Hoffnung? Ja, wo kommt eigentlich die Hoffnung her? Wie entsteht sie? Im Laufe der Zeit haben sich die Erfahrungen Macys zu einem Konzept verdichtet. Sie nennt diesen Ansatz auch „Die Arbeit, die wieder verbindet“, da genau dies ein wesentlicher Schritt ist, einen wirklichen Wandel herbeizuführen: sich wieder verbunden fühlen mit allem, was lebt und sich mit Gleichgesinnten zu verbinden, um durch gemeinsames Handelen die Selbstheilungskräfte der Erde zu wecken.

Durch Peter Aschoff, einem unermüdlichen Blogger in der christlichen Szene, bin ich auf Joanna Macys Arbeit gestoßen. Und mittlerweile kann ich sagen, dass mich ihr Ansatz geprägt hat. Die Eckpunkte von „Active Hope“ will ich hier nun vorstellen.

Zweierlei ist für ihren Ansatz wesentlich: Die Wahl, wie wir den Lauf der Dinge sehen wollen („drei Geschichten über unsere Zeit“) und der eigentliche Prozess der verbindenden Arbeit („die Spirale der Arbeit, die wieder verbindet“).

Drei Geschichten über die Welt

Kurz gesagt gibt es drei Möglichkeiten, unsere Welt mit all ihren Krisen und Katastrophen zu sehen: Wir können so weiter machen wie bisher, eventuell mit der einen oder anderen kleinen Verbesserung. Wir können oder wollen dabei nicht sehen, dass sich etwas grundlegend ändern muss. Macy nennt dies „Business as ususal“. Das ist die Das ist nunmal der normale Gang der Dinge-Geschichte. Die zweite Möglichkeit nennt Macy den „fortschreitenden Zerfallsprozess“. Hier sehen wir zwar sehr deutlich, was alles schiefläuft, aber die Krisen sind so gewaltig, dass wir uns ohnmächtig fühlen. Das ist die Alles geht den Bach runter-Geschichte. Die dritte Geschichte – und es ist die, um die es im Folgenden gehen wird – ist die Geschichte des „Großen Wandels“. Diese Ein anderes Leben ist möglich-Geschichte erzählt von der sozial-ökologischen Transformation. Dieser „Große Wandel“ findet zurzeit statt, jetzt – und wir sind mittendrin.

Alle drei sind Erzählungen, wie wir die Welt und uns darin sehen (wollen). Wir haben die Wahl, welche Geschichte wir erzählen. Das ist eine zentrale Erkenntnis und dahinter liegt ein einfaches und wirkungsvolles Prinzip: Das, worauf ich meine Aufmerksamkeit lenke, wächst. Letztlich ist es ein Prinzip, das man in den meisten geistlichen Übungen wiederfindet, allen voran im Gebet und in der Meditation. Ich habe es in der Hand, worauf ich meine Aufmerksamkeit lenke. Was ich füttere, wird groß.

Die Spirale von „Actice Hope“

Aber was tun, um aus dem „Business as usual“ auszusteigen und nicht der Geschichte vom „fortschreitenden Zerfallsprozess“ zu viel Glauben zu schenken? Wir kommen zum Kern von Active Hope. Joanna Macy hat im Laufe ihrer Arbeit einen Prozess entwickelt (oder entdeckt?), der aus vier aufeinanderfolgenden Schritten besteht:

  • Beginnen mit Dankbarkeit,
  • den Schmerz würdigen,
  • mit neuen Augen sehen,
  • und Weitergehen und Handeln.

Die vier Schritte ihrer Arbeit unterscheiden sich deutlich von gängigen Problemlösungsansätzen. Es ist ein Transformationsansatz, der gerade dadurch kraftvoll sein kann, wenn er mit spirituellen Traditionen verbunden wird. Joanna Macy entwickelt ihre Arbeit aus ihrem buddhistischen Hintergrund. Ich wiederum erkenne darin christliche Essentials. Das Wichtigste ist aber: Hoffnung durch Handeln ist eine Praxis, ein Tun.

Beginnen mit Dankbarkeit

Ausgangspunkt bei diesem Transformationsprozess ist nicht etwa die Bestandsaufnahme oder Analyse, sondern die Dankbarkeit. So merkwürdig es auf den ersten Blick erscheint, Dankbarkeit an den Beginn und nicht ans Ende der Arbeit zu stellen, so sinnvoll ist es. Denn sie steigert die Resilienz und kann öffnend wirken. Dankbarkeit kann Bitterkeit heilen, ist das Gegengift zu Groll, überwindet Anspruchsdenken und stärkt unser Zugehörigkeitsgefühl, so David Steindl-Rast.

Dankbarkeit ist zudem ein Gegenmittel zum Konsumismus. Und das ist in der Tat ein guter Ausgangspunkt für den „Großen Wandel“: „Dankbarkeit und Materialismus bieten unterschiedliche Geschichten darüber an, was wir brauchen, um uns sicher zu fühlen. Beim Materialismus beruht die Sicherheit darauf, die richtigen Dinge zu haben […]. Dankbarkeit verschiebt unseren Fokus von dem, was fehlt, zu dem, was da ist. Wenn wir eine kulturelle Therapie entwerfen sollten, die uns vor Depression schützt und gleichzeitig den Konsumismus im Zaum halten hilft, dann werden wir sicherlich die Kultivierung unserer Fähigkeit, Dankbarkeit zu empfinden, mit hineinnehmen. Uns zur Kunst der Dankbarkeit zu erziehen ist Teil des Großen Wandels“ (Macy/Johnstone, Hoffnung durch Handeln, S. 55).

Dankbarkeit ist eine universelle spirituelle Praxis – vielleicht sogar die einzige wirklich traditionsübergreifende – und damit ist sie eben auch eine christliche Praxis. Der schon erwähnte österreichisch-amerikanische Benediktiner David Steindl-Rast war für mich übrigens die Entdeckung, als ich nach christlichen Lehrern suchte, die sich mit Dankbarkeit beschäftigen. „Grateful Living“ ist Steindl-Rasts Lebensthema, sein Netzwerk ein Dorado an Ideen, Erfahrungen und Übungen.

Den Schmerz würdigen

Grundsätzlich versuchen Menschen, alles Negative – und erst recht Schmerz – zu vermeiden, entweder durch bekämpfen, weglaufen oder betäuben. Gerne wird so getan, dass man sich möglichst (nur) mit Positivem umgeben solle, um resilienter zu werden. Doch das ist ein Trugschluss. Gerade die Mechanismen, dem Schmerz auszuweichen, sind auf lange Sicht oft ungesund.

Joanna Macy ermutigt: „Wir haben durchgängig die Erfahrung gemacht, dass die Menschen dann, wenn sie sich dem Strom ihres emotionalen Erlebens öffnen – sei es der Verzweiflung, Trauer, Schuld, Wut oder Angst –, das Gefühl haben, eine Last würde ihnen von den Schultern fallen. Auf der Reise in den Schmerz verlagert sich etwas Grundlegendes, es tritt eine Wende ein. Wenn wir in unsere Tiefe hinabtauchen, stellen wir fest, dass sie nicht bodenlos ist“ (Macy/Johnstone, Hoffnung durch Handeln, S. 74). Damit sind wir bei dem entscheidenden Punkt: Trauer hat eine verwandelnde Kraft. Doch damit diese Kraft wirksam werden kann, braucht es eine Kultur des Trauerns, die in unserem Mainstream kaum üblich ist.

Den Schmerz zu würdigen bedeutet, ihn zuzulassen, sich von ihm anrühren zu lassen – vom eigenen Schmerz und dem anderer – und hinzusehen. Ein christlicher Begriff dafür ist Compassion. Johann Baptist Metz, der diesen Begriff geprägt hat, nennt es auch die „Mystik der offenen Augen“.

Damit einher geht die Erkenntnis, dass alles miteinander verbunden ist. Dies ist ja ein Kerngedanke der Tiefenökologie, der sich etwas schwächer auch im Christentum findet – zumindest in mystischen und schöpfungsspirituellen Traditionen. Die Compassion und die Verbundenheit sind zentrale spirituelle Aspekte bei der Active-Hope-Spirale.

Was bräuchte es? Der Trauernde darf seine Trauer zulassen. Er darf sie zeigen, vor anderen, denn sie will gesehen werden. Vielmehr ist es nicht: Der eine zeigt, der andere sieht. Doch stattdessen ist es bei uns üblich, dass der eine die Tiefe des Schmerzes versteckt, und der andere tröstet. Trösten ist in erster Linie der Versuch, die Situation zu kontrollieren. Denn indem ich tröste, setze ich das Setting und reguliere damit, wie viel ich an mich heranlasse. Trösten mag gut gemeint sein, ist aber häufig unbewusster Selbstschutz. Und hilft oft nicht. Denn Trost kann nur erfahren, aber nicht gegeben werden.

Also: Es geht darum, auch dem Schmerz, der Trauer oder einfach der Traurigkeit Raum zu geben – und zwar nicht zufällig sondern bewusst. Dies ist ein wichtiger und guter Schritt und keine „Störung“. Und was ist mit der Angst, darin stecken zu bleiben? Macy sieht dies recht gelassen: Das, was emotional in uns hineinfließt, kann auch wieder herausfließen (S. 76). Die Trauer, die sich zeigt, kommt ja gerade von der Liebe für das, worum man trauert. Das ist das Gute.

Mit neuen Augen sehen

Nachdem man mit der Dankbarkeit begonnen und den Schmerz gewürdigt hat, kann nun der dritte Schritt der ActiveHope-Spirale kommen: Mit neuen Augen sehen. Joanna Macy nutzt dafür eine neue Sicht auf vier zentrale Aspekte in Transformationsprozessen: Zeit, Macht, Gemeinschaft und das Selbst. Ich verfolge hier eine etwas andere Spur.

Zunächst einmal ist es für mich immer wieder hoffnungsstärkend, zu erkennen: Nichts beginnt bei null. Allerorten gibt es bereits Anfänge, und seien sie noch so klein. Ich muss sie nur suchen, finden – und aufgreifen. Christlich gesprochen könnte man darin auch die Dynamik von „schon“ und „noch nicht“ sehen. Gemeint ist damit das Reich Gottes, das schon angebrochen, aber eben noch nicht vollendet ist. Ich mag diesen Gedanken. In diesem Zusammenhang sind auch viele Gleichnisse Jesu hoffnungsvoll, allen voran das vom Senfkorn: Aus Kleinem kann Großes werden. Beides entspricht meiner Erfahrung. Nicht immer, aber immer wieder.

Oft kommen wir nicht auf Neues, weil wir dem Neuen gar keinen Raum geben. Dann können wir es halt auch nicht sehen. Wir suchen permanent Ablenkung oder denken, dass wir Impulse oder Inspiration von außen brauchen. Und so können wir gar nicht bemerken, was bereits in uns ist.

Die einfachste und wirkungsvollste Intervention ist daher: Einfach mal nichts tun. Und das aushalten, ohne sofort wieder in die Ablenkung zu springen oder Inspiration von außen zu suchen. Genau genommen ist es nicht „nichts tun“, sondern ein „nicht Tun“, ähnlich dem daoistischen wu wei. Der Trick dabei ist: Wenn Dankbarkeit und Schmerz wahrgenommen wurden, Raum bekommen haben und an ihren rechten Platz gerückt wurden, dann wird in diesem dritten Schritt nicht „nichts“ sein, sondern es wird sich etwas zeigen. Ganz gewiss.

Werfen wir noch einmal einen Blick auf die ersten beiden Schritte: Das, wofür man dankbar ist, deutet auf erfüllte Bedürfnisse hin und das, worüber man trauert, deutet auf unerfüllte Bedürfnisse hin. Da man sich also schon intensiv mit den betroffenen Bedürfnissen beschäftigt hat – auch ohne dies so zu nennen – könnte man im dritten Schritt damit fortfahren. Welche unerfüllten Bedürfnisse sind aufgetaucht? Und gibt es statt der bisherigen, nicht gelingenden Bedürfniserfüllungsmaßnahmen ganz andere Ideen, Lösungen oder Strategien, um sie zu befriedigen? Auch das kann eine Art des „Sehen mit neuen Augen“ sein.

Weitergehen und Handeln

Erst jetzt kommt der Schritt, sich um das „Hinkriegen“ zu kümmern. Dazu gehört es, die eigene Absicht zu klären und die Unterstützung aufzubauen, die man braucht.  Die wesentlichen Unterstützungsarten sind Wissen (Welches Wissen brauchen ich?), Rüstzeug (Welche Fähigkeiten, Methoden und Tools brauche ich?) und andere Menschen (Wer sind meine Gefährten? Welche Verbündete brauche ich? Und wo finde ich diese Menschen?)

Das weist auf etwas Wesentliches hin: Es geht nicht allein! Macy nennt ihren Ansatz schließlich auch „Die Arbeit, die wieder verbindet“ – und das meint eben auch, kollektiv unterwegs zu sein.

Hoffnungsarten

Was hat all das nun mit Hoffnung zu tun? Zum einen sind mit den „drei Geschichten“ verschiedene Arten von Hoffnung verbunden. Die Hoffnung in der Geschichte vom fortschreitenden Zerfall ist die Hoffnung auf Rettung. Das Einzige, was jetzt noch helfen kann, ist gerettet zu werden. Eine Macht außerhalb von uns muss es richten. In der Geschichte vom „Business as usual“ kommt eine andere Art von Hoffnung vor. Es ist die Hoffnung, dass es besser sein könnte – und genau das hilft uns, im Hamsterrad des Immer-weiter-so von einem Tag zum nächsten zu kommen. Ehrlich gesagt scheint es eher eine ablenkende Hoffnung zu sein. Sie gibt uns immer so viel Hoffnung, dass wir nicht völlig verzagen und somit weiterhin dieser Geschichte treu bleiben. In der Geschichte vom Großen Wandel rückt die Hoffnung schließlich an eine andere Stelle: sie stellt sich ein durchs Tätigsein. In diesem Schaubild Ist dies noch einmal zusammengefasst.

Eine Grundfrage ist also: Hoffe ich auf äußere Wirkkräfte oder beteilige ich mich daran, das herbeizuführen, was ich erhoffe? Und wie kann ich mich beteiligen? In dem ich mich nicht verausgabe im Hamsterrad des „Business as usual“ oder verkämpfe im Teufelskreis des „fortlaufenden Zerfalls“, sondern in dem ich die Spirale von Joanna Macys Arbeit durchschreite: Beginnen mit Dankbarkeit, den Schmerz würden, mit neuen Augen sehen, um schließlich weiterzugehen und zu handeln.

Fürchte dich ruhig!

„Fürchte dich nicht!“ ist das Billy-Regal unter den Seelsorge-Sprüchen. Und in der Corona-Pandemie ist es die Lieblingsphrase von kirchlichem Personal. Antje Schrupp hat diesen Satz zu ihrem persönlichen Unwort des Jahres gekürt:

Als Zuspruch finde ich diesen Satz wirklich ärgerlich. Jemanden, der Angst hat, zu sagen, er solle keine Angst haben, ist wenig hilfreich. Was soll das?

Dass der Satz aus der Bibel stammt, qualifiziert ihn nicht automatisch als Trostspender. Zumal der Satz dort vor allem eine Aussage über Gott ist (ein Gott, vor dem man sich nicht fürchten muss).

„Fürchte dich nicht!“ kommt als seelsorgerlicher Zuspruch daher, aber er ist einfach eine Phrase, die genau das Gegenteil von Seelsorge ist. Der Satz nimmt das Gegenüber nicht ernst und zeugt von einer mangelnden Kenntnis von Gefühlen.

Denn Gefühle lassen sich nicht durch Appell ändern. Auch wenn der Appell sanft formuliert und liebevoll gemeint ist. Gefühle stellen sich weder ein, noch lassen sie sich abstellen, wenn man sie dazu auffordert: „Nun freu dich mal!“, „Sei nicht so wütend!“, „Du musst nicht traurig sein.“, „Fürchte dich nicht!“.

Und selbst wenn es möglich wäre, Furcht einfach abzustellen, wäre es wohl nicht hilfreich. Denn Gefühle gibt es ja nicht ohne Grund. Und der Sinn von Gefühlen ist nicht der, weggemacht zu werden.

Wie könnte denn Zuspruch aussehen?

So paradox es klingt: „Fürchte dich ruhig!“, wäre ein guter Anfang. Du darfst dich fürchten. Auch wenn es ein unschönes Gefühl ist. – Und manchmal geht ein unschönes Gefühl einfach dadurch weg, wenn es da sein darf.

Und dann vielleicht: „Fühle die Furcht!“ Auch dies mag wieder merkwürdig klingen, aber ich kann hinter diese Erkenntnis einfach nicht mehr zurück: Gefühle wollen gefühlt werden. Sie wollen wahrgenommen werden. – Und manchmal ändert sich ein Gefühl einfach dadurch, dass es gefühlt wird.

Der nächste Schritt könnte sein: „Was will deine Furcht dir sagen?“ Die Angst wegmachen wollen – Ablenkung, Abstumpfung, Bekämpfen sind die drei gängigen Mittel – ohne zu hören, was sie einem mitteilen will, ist eigentlich schade. Die Botschaft, die in der Furcht liegt, könnte eine gute Erkenntnis bringen. Meist sagt sie etwas darüber aus, wen oder was man liebt. – Und manchmal verschwindet die Furcht, wenn sie ihre Botschaft überbracht hat und wirklich gehört worden ist.

„Erzähle von deiner Furcht!“ ist eine weitere Möglichkeit. Suche dir jemand, dem du sie zeigen kannst. Der nicht zurückschreckt und sich einfach anhört, was du zu erzählen hast – ohne gleich Taschentücher, Ratschläge oder Bibelzitate zu zücken. Gesegnet der, der solche Menschen hat (und by the way: Das erwarte ich eigentlich von der Kirche, solche Zeigen-und-Hören-Netzwerke aufzubauen, und nicht Bibelzitate zu droppen. Aber das ist noch mal ein ganz anderes Fass).

Ich weiß, wovon ich spreche, I’ve learned it the hard way. Die Arbeit von Vivian Dittmar und von Marshall Rosenberg haben mich da geprägt und bereichert. Und immer, wenn ich ein „Fürchte dich nicht!“ höre oder lese, werde ich wütend und traurig. Denn ich wünsche mir einen guten – einen lebensdienlichen, heilsamen, reifen – Umgang mit Gefühlen. Und keine Phrasen, auch keine gut gemeinten.

Jesus, Maria Magdalena und ich

Irgendwie ist sie zu mir gekommen, diese kleine heilsame Imaginationsübung.

Die Ausgangsituation: Ein Gefühl von Verletzung, nicht gesehen werden, Schuld oder Scham.

Dann stelle ich mir vor, mit Jesus und Maria von Magdala unterwegs zu sein. Irgendwo am östlichen Rand des Mittelmeerraumes, etwas außerhalb der Städte, zwischen zwei Dörfern. Gerade machen wir Rast unter Olivenbäumen. Es ist warm, wir sind im Schatten.

Da steh ich nun – verletzt, nicht gesehen, mit Schuld- oder Schamgefühlen – und Jesus steht vor mir und schaut mich an.

Er schaut und schweigt. Ein wohlwollender, ein weicher aber durchdringender Blick. Er sagt: nichts. Kein frommes Sprüchlein, kein Ratschlag, kein Zuspruch. Er schaut nur.

Und Maria ist dabei. Mal steht sie schützend hinter mir, mal neben uns beiden. Sie ist immer mit dabei. Denn sie sind gemeinsam unterwegs, sie und Jesus.

Ein charismatisches Paar. Beide geerdet. Man spürt die Energie zwischen ihnen, die Kraft, die von ihnen ausgeht, ihre Präsenz. Ich stehe in diesem barmherzigen, öffnenden und nährenden Feld, und lasse mich anschauen.

Das war’s auch schon. Ich versuche, ein paar Minuten in der Imagination zu bleiben.

Kaum eine Übung ist so (er)lösend für mich.

Grüne Reformation

Seitdem ich auf der Tagung Eine grüne Reformation!? Aufbrüche Ökologischer Theologie in der planetaren Krise im Sommer 2017 in  Hofgeismar von der Idee einer „Grünen Reformation“ gehört habe, geistert mir dieser Gedanke im Kopf herum. Ich habe nun einige Stichpunkte dazu aufgeschrieben. Sie sind mein momentaner Zwischenstand zum Weiter-dran-Rumdenken…

 

1 Die Ausgangslage: Wir sind dran, jetzt.

Die planetaren Grenzen sind erreicht. Nicht weil wir zu viele sind, sondern weil wir falsch leben, wirtschaften, konsumieren, essen.

Wir zählen zu den ersten Generationen des Anthropozäns, einer neuen Stufe im Erdzeitalter, und zu der letzten Generation, die noch in der Lage ist, einen Wandel zu bewirken, um das Weiterleben der Menschheit auf diesem Planeten zu ermöglichen. Das Weiterleben der Menschheit entscheidet sich jetzt. Wir sind dran. Wir und jetzt.

 

2 Wandel statt Veränderung

Veränderungen reichen nicht mehr, es braucht einen wirklichen Wandel: eine sozial-ökologische Transformation.

Das Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) spricht in Rückgriff auf Polanyis „Great Transformation“ von der Großen Transformation. Und in der Tiefenökologie wurde der Begriff vom Großen Wandel („Great Turning“) geprägt.

Wandel/Transformation bedeutet etwas qualitativ Neues; Veränderungen fügen lediglich etwas quantitativ Neues dem Alten hinzu, letztlich bleibt aber alles – mehr oder weniger – wie es ist. Ein Wandel ist immer auch ein Sterbeprozess, etwas Altes geht unwiderruflich zu Ende. Daher lösen Transformationsprozesse oft Angst aus.

Wirksamer Wandel geht nicht ohne Bewusstseinswandel. Ein tiefgreifender Bewusstseinswandel ist gerade auch ein spiritueller Prozess.

 

3 Grüne Reformation

Das Schlagwort Grüne Reformation ist griffig  – und es ist geeignet, das Anliegen einer Großen Transformation theologisch, geistlich und kybernetisch aufzugreifen, zu durchdringen und weiter zu entwickeln.

„Seit der Reformation haben wir erkannt: Wir haben einen gnädigen Gott […]. Heute ist die Stunde reformatorischer Erkenntnis: Die Erde braucht einen gnädigen Menschen […].“ (Bärbel Wartenberg Potter). Eine Grüne Reformation ruft auf zur Bekehrung zu Gottes Erde. Die Erkenntnis, dass der Mensch allein aus Gnade gerechtfertigt ist, reicht zum Theologietreiben im Anthropozän nicht mehr aus. Und so rückt neben dem Versöhnungsgeschehen Gott/Mensch nun auch das Versöhnungsgeschehen Mensch/Erde in den Fokus.

In diesem Sinne kann eine Grüne Reformation  die Große Transformation kirchlicherseits begleiten und fördern. Dazu gehört es einerseits, die eigenen geistlichen Traditionen von Schöpfungsliebe und -verantwortung (wieder) zu entdecken, weiterzuentwickeln und anzubieten, und andererseits den Anschluss an gegenwärtige Transformationsbewegungen zu halten und ihre Erkenntnisse und Praktiken in der eigenen kirchlichen Arbeit fruchtbar zu machen.

Daraus folgen theologische, spirituelle und kybernetische Aufgaben (5-7).

 

4 Die gegenwärtige kirchliche Situation

War die Kirche in den 1980er Jahren noch Vorreiter in Sachen „Umweltschutz“ (so hieß das damals), ist ihr mittlerweile nicht nur das Thema weitgehend verlorengegangen, sondern sie hat wenig thematischen Anschluss an die gegenwärtigen Wandel- und Transformations-Bewegungen. Dies sind zum Beispiel: neue pragmatische Nachhaltigkeits-Szenen („ZeroWaste“ etc.); intentionale Gemeinschaften („Ökodörfer“); Konzepte wie Commoning, Gemeinwohlökonomie, Permakultur oder Tiefenökologie mit ihren jeweiligen Szenen; Bewegungen wie Transition Towns, Minimalismus, Maker-/Repair-Bewegung; im Agrarbereich sind es kleinbäuerliche Ansätze wie SoLaWis, aufbauende Landwirtschaft oder Mikroagros.

Es gibt derzeit viel Aufbruch – aber zählen die Kirchen zu den „Laboratorien“ oder „Inkubatoren“ des sozialökologischen Wandels?

Auf der Ebene einzelner Einrichtungen, Werke, Landeskirchen wird das Thema wahrgenommen, entwickelt aber wenig Durchschlagkraft (gute Sachen sind zum Beispiel dies, dies, dies, dies und dies). Auf Gemeindeebene hätte es – in der Masse – genügend Durchschlagkraft, wird dort aber wenig wahrgenommen (kurzer Test: einfach mal in den letzten zehn Presbyteriumsprotokollen alles markieren, was zu Ökologie im Gemeindeleben debattiert oder beschlossen wurde…!).

Auch wenn guter Wille grundsätzlich vorhanden ist, gibt es zahlreiche Transformationsblockaden, die nicht in der Sache begründet sind, sondern in der Art und Weise, wie sich Kirchengemeinden organisieren.

 

5 Theologische Aufgaben

Es gibt derzeit keine inspirierende theologische Debatte, die Kirche und Gemeinde vitalisiert und gleichzeitig anschlussfähig an die „Große Transformation“ ist. In den 1970er Jahre leistete dies die Befreiungstheologie, die sich in ihrer antikapitalistischen und antiimperialistischen Ausrichtung gut mit „Umweltschutz“ verbinden ließ und zudem zu einer Aufbruchstimmung in der Kirche führte.

Theologisch geht es daher nun um die Entwicklung einer Ökologischen Theologie – nicht als neue „Themen-Theologie“, sondern als neues theologisches Paradigma, ähnlich wie die feministische Theologie. (Ein guter Einstieg ins Thema sind die beiden Aufsätze aus der Tagungsdokumentation Grüne Reformation von Jürgen Moltmann: Die ökologische Wende in der christlichen Theologie, S. 27-40 und Dietrich Werner: Brauchen wir eine Ökologische Reformation?, S. 143-154).

„Ein paar grüne Gebete genügen nicht. Nur eine tiefgreifende Veränderung des theologischen Paradigmas – des Anthropozentrismus – der Mittelpunktstellung des Menschen, mit dem wir heute die Welt interpretieren, wird uns herausführen“ (Bärbel Wartenberg-Potter).

 

6 Spirituelle Aufgaben

Eine Grüne Reformation darf nicht vorschnell auf ihre ethische Dimension reduziert werden. Gerade die spirituelle Durchdringung des Großen Wandels ist nötig. Interessanter Weise wird dies in bisher als „säkular“ geltenden Szenen erkannt, siehe zum Beispiel das Stichwort „sacred activism“.

Zudem hat der Protestantismus bis heute ein ambivalentes Naturverhältnis. Natur war lange Zeit etwas Belächeltes (ein kirchlicher Sponti-Spruch der 90er lautete: „Wer Gott im Wald sucht, soll sich auch vom Oberförster beerdigen lasen!“), etwas Gefährliches (dessen Wildheit eingedämmt und begrenzt werden musste), etwas Pittoreskes („Geh aus mein Herz und suche Freud“, Strophen 1-7) oder letztlich etwas Unrelevantes, weil sie nur der irdische Wartesaal für das himmlische Leben darstellte („Geh aus mein Herz und suche Freud“, Strophen 9-15). Genauso wie der Protestantismus de facto immer ein verkorkstes Verhältnis zur Körperlichkeit hatte, wurde auch die Natur spirituell tabuisiert. Alles Naturhafte steht schnell unter Esoterikverdacht (Pantheismus! Panentheismus! Animismus! Naturismus! Theosophie! – aus gut protestantischer Sicht sind dies Irrlehren).

Eine Grüne Reformation braucht eine „erdige“ Frömmigkeitspraxis: Das meint eine Liebe zur Erde (zur Mutter Erde wie zur Muttererde) und bedeutet, sich selbst in erster Linie als „Erdling“ (Geiko Müller-Fahrenholz) zu verstehen.

Es gilt die diesbezüglich fruchtbaren Spiritualitäten wieder zu entdecken. Beispielsweise die Naturverbundenheit des keltischen Christentums, Hildegard von Bingens „Grünkraft“, Franz von Assis Schöpfungsverbundenheit, Teilhard de Chardins evolutionäres Spiritualitätsverständnis, Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“, Matthew Fox‘ Arbeiten zur Schöpfungsspiritualität, die „transformative Spiritualität“ des Ökumenischen Bewegung, Franziskus „Sorge für das gemeinsame Haus“ und viele weitere Ansätze…

 

7 Kybernetische Aufgaben

Für die Kirchengemeinden liegt in einer Grünen Reformation die Chance, das Gemeindeleben zu vitalisieren: In den Gemeinden gibt es – meiner Beobachtung nach – etliche Menschen, die geradezu darauf warten, über die Fragen des ökosozialen Wandels, der damit verbundenen theologischen und spirituellen „Grundierung“ und konkreten Praxisprojekten (wieder) miteinzusteigen. Attraktivität durch Relevanz! Kirchengemeinden können zu schöpfungsspirituellen Lernzentren werden – quer durch die gemeindlichen Handlungsfelder.

Die Homebase des Protestantismus – das satte bürgerliche Milieu – ist letztlich Nutznießer der gegenwärtigen Weltverhältnisse. Gerade hier könnten Kirchengemeinden wirksam werden.

Ein Füllhorn an Anregungen gibt es unter Greening Your Church auf der umfangreichen Webseite „Eco-Justice Ministries“.

 

8 Warum ist dies überhaupt eine christliche bzw. kirchliche Aufgabe?

Zunächst einmal: Das Christentum trägt besondere Verantwortung, weil der gnadenlose Umgang mit der Natur gerade auch auf die Geisteshaltung des Christentums zurück zu führen ist (zum Beispiel Lynn White 1967, Eugen Drewermann 1981). Eine imperiale Lebensweise wird vor allem von protestantisch geprägten Ländern vorangetrieben.

Oft unterschätzt: Das Christentum hat eigene Traditionen und Theologien eines Lebens in Schöpfungsverbundenheit. Es gibt reiche schöpfungsspirituelle Ansätze (allerdings zählen sie nicht unbedingt zum Mainstream).

Der wichtigste Grund: Wandel ist ein geistlicher Prozess und der christliche Glaube ist in seinem Kern ein Transformationsgeschehen. Umkehr, Wandel, Metanoia sind zentrale Themen des christlichen Glaubens.

 

9 Ressourcen der Kirche

Die eigene christliche Tradition ist reich (muss aber wiederentdeckt und fruchtbar gemacht werden).

Das Christentum (als Bewegung) hat sich immer auch als alternative Lebensform verstanden.

Mit ihren eigenen Ressourcen – geistlichen wie infrastrukturellen – kann sich die Kirche nicht nur einbringen, sondern eigene Akzente setzen.

Die Kirchengemeinden verfügen über nicht unerhebliche Flächen an Grund und Boden, die sie so gestalten können, wie sie wollen.

Eine Grüne Reformation kann (wird!) die Kirche vitalisieren und lebendig machen. Und wieder: Es geht nicht in erster Linie um moralisches Tun, sondern um das Feiern des Lebens und um Leben in Fülle.

 

10 Strategisch ansetzen

Grüne Reformation = die „Große Transformation“ in die Breite der Kirche bringen.

Veränderung genügt nicht, es braucht einen wirklichen Wandel. Ein wirksamer Wandel geht nicht ohne Bewusstseinswandel. Ein tiefgehender Bewusstseinswandel ist letztlich ein geistlicher Prozess. Den geistlichen Gehalt entfalten, und nicht vorschnell eine Grüne Reformation „ethisieren“.

Erkunden und experimentieren, wie man den geistlichen Gehalt in konkrete Praxisformen überführen kann.

Möglichst zügig eine kritische Masse aufbauen. Alle wird es eh nicht interessieren, aber das ist auch nicht erforderlich.

 

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Wichtige Literatur

Bertelmann, Brigitte/Heidel, Klaus (Hg.): Leben im Anthropozän. Christliche Perspektiven für eine Kultur der Nachhaltigkeit, München 2018, oekom.

Biel, Michael/Kappes, Bernd/Wartenberg-Potter, Bärbel (Hg.): Grüne Reformation. Ökologische Theologie, Hamburg 2017, Missionshilfe Verlag.

Müller-Fahrenholz, Geiko: Heimat Erde. Christliche Spiritualität unter endzeitlichen Lebensbedingungen, Gütersloh 2013, Gütersloher Verlagshaus.

ACK Region Südwest u.a. (Hg.): erd-verbunden: ökumenisch-geistlicher Weg zur Schöpfungsverantwortung im Anthropozän, 2 Hefte, Infos hier.

Wartenberg-Potter, Bärbel: Bekehrung zu Gottes Erde. Theologische Erwägungen zur ökologischen Krise des Planeten. Deutsches Pfarrerblatt 1/2015.

Weizsäcker, Ernst Ulrich von/Wijkman, Anders (Hg.): Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen, Gütersloh 2017, Gütersloher Verlagshaus.

Schneidewind, Uwe: Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt/Main 2018, Fischer.

Resonanzkompass

Mit der Welt in Beziehung treten, sich Welt anverwandeln.
(Hartmut Rosa)

Das ist das Programm der Rosa’schen „Resonanzpädagogik“ (Rosa/Endres: Resonanzpädagogik, Beltz, 2016). Resonanzpädagogik geht über Aneignung einer Sache hinaus, es geht um ihre Anverwandlung. Aneignung bedeutet Kompetenzerwerb. „Anverwandlung bedeutet, sich eine Sache so zu eigen zu machen,  […] dass sie mich existenziell berührt oder tendenziell sogar verändert“ (S. 16). Und weiter: „Die Idee von Bildung ist, Welt für die Subjekte zum Sprechen zu bringen oder in Resonanz zu versetzen. Bildung bedeutet also weder Welt-Wissen zu erwerben, noch bedeutet es, sich selbst zu bilden, sondern Bildung ist Weltbeziehungs-Bildung“ (S. 18).

Ob das wirklich ein schuldidaktisches Konzept ist, kann ich nicht beurteilen (da ich kein Schul-Pädagoge bin), aber es ist auf jeden Fall ein lebensdidaktisches Konzept. Die Haltung dahinter passt (mir), sie ist wohltuend.

Auf die Frage, ob es denn so etwas wie einen „Resonanzkompass“ gebe, antwortet Hartmut Rosa:

„Einen Resonanzkompass kann ich so einfach nicht bieten. Aber ich glaube, dass wir versuchen können, einen zu entwickeln. Er ist ein feines Instrument, das uns anzeigen soll, in welcher Richtung möglicher Weise Lösungen zu finden sind. Und so wie ein Kompass über Magnetfelder oder Kraftfelder funktioniert, so können wir vielleicht versuchen, auch Orientierungen in unseren Weltbeziehungen und Lebensformen zu gewinnen. Dann könnte ich mich fragen, was war es eigentlich, was ich mir vom Leben versprochen habe und das ich jetzt vermisse? Und dann würden wir wahrscheinlich feststellen, […] dass es darum geht, herauszufinden, welche Weltausschnitte, welche Personen, welche Gegenden, welche kulturellen Dinge uns ansprechen können, welche uns zum Klingen bringen können“ (Hartmut Rosa in Rosa/Endres, S. 96).

Und dann habe ich gedacht: Na, da ist er doch, der Kompass! Er besteht einfach aus den beiden genannten Fragen:

  • Was vermisse ich, was ich mir eigentlich vom Leben versprochen habe?
  • Welche Weltausschnitte bringen mich zum Klingen?

Ich hoffe, dass Rosas Werk dazu beiträgt, dass diese Fragen in der Schule gestellt werden. Aber man kann sich auch einfach selbst diese Fragen stellen, immer mal wieder. Vielleicht gerade in Zeiten, in denen man irgendwie feststeckt.

Was vermisse ich? Etwas, das ich mir erhofft habe und das aus welchen Gründen auch immer bisher nicht eingetreten ist. Mit anderen Worten: Ich schaue auf meine unerfüllten Sehnsüchte. Auf meine Bedürfnisse, die momentan im Mangel sind. Die eigenen Bedürfnisse kann man selbst ergründen, auch wenn es manchmal erst etwas geübt werden muss.

Welche Weltausschnitte bringen mich zum Klingen? Wie stoße ich auf meine Weltanverwandlungsausschnitte? Das ist schon schwieriger. Gezielt suchen, zufällig finden (Serendipidität) oder darauf gestoßen werden – all das ist möglich. Gute Fragen für die Suche nach dem, was mich zum  Klingen bringt, sind:
* Worein kannst du dich stundenlang vertiefen?
* Wovon kannst du mit Begeisterung erzählen?
* Wofür würdest du morgens freiwillig früher aufstehen?
* Was hast du als Kind gerne gemacht? [*]

Das ist der Kompass. Im Grunde ist es schon mehr als ein Kompass, denn er zeigt ja bereits einen Kurs an. Fehlt dann nur noch die Route.

[*] Die letzten beiden Fragen habe ich aus diesem Video von Nicola Schmidt. Anderes Thema, aber die Fragen passen gut hierhin.

einfaches Leben (2)

Einfaches Leben ist ja eine Sache, der ich mich verbunden fühle. Ich hatte hier auch schon einmal etwas dazu geschrieben. Aber was genau ist für mich eigentlich einfaches Leben?

Einfacher im Sinne von weniger: Das rechte Maß finden. Da wir in der westlichen Welt weit über unsere Maßstäbe leben, bedeutet ein rechtes Maß vor allem eines: weniger. Und zwar von (fast) allem. Auch wenn „weniger ist mehr“ wie ein Floskel klingt, merke ich immer wieder, dass sie stimmt, für mich stimmig ist.

„Weniger ist mehr“ gilt für mich nicht nur beim Verbrauch (Konsum), sondern auch bei all dem, was ich mental und emotional in mich reinlasse. Auch dazu hatte ich schon einmal etwas geschrieben. Es wird mir immer wichtiger.

Einfacher im Sinne von konzentrierter: Einen Fokus setzen. Das hat Daija auf liebevollerleben gut beschrieben:

„Unter einem einfachen Leben verstehe ich ein Leben, bei dem ich mich auf das, was mir wirklich wichtig ist, konzentriere; alles andere entferne ich in einem fortlaufenden Prozess, soweit dies möglich ist. […] Wenn man sich freiwillig für ein einfaches Leben entscheidet, geht es primär nicht um ein ‚Weniger‘ sondern um ein ‚Anders‘; in diesem Fall ist eher ein ’side-shifting‘ als ein ‚downshifting‘. […] Es geht darum, mehr Raum zu schaffen für individuell unterschiedliche Prioritäten: mehr mehr Zeit für zwischenmenschliche Beziehungen, Spiritualität, Lernen und persönliche Weiterentwicklung, Kreativität, Wohlbefinden oder soziales Engagement.

Einfacher im Sinne von natürlicher: Orientierung an der Natur. Dazu gehören möglichst natürliche Produkte und deren ebensolche Herstellung – bei all den Ambivalenzen, die damit oft verbunden sind (Wenn in unserer Biokiste manches Gemüse in Plastik eingepackt ist, ist das natürlich nicht Sinn der Sache. Wobei das andererseits auch wiederum kein Grund ist, keine Biokiste zu haben, denn Biogemüse in Plastik ist immer noch besser als konventionelles Gemüse in Plastik).

Orientierung an der Natur bedeutet für mich aber noch weit mehr: die Berücksichtigung von natürlichen Rhythmen wie den den Jahreszeiten (kleine Notiz dazu hier) und das Eingehen auf natürliche Entwicklungsschritte wie zum Beispiel beim „artgerecht“-Ansatz in der Erziehung.

Einige Erkenntnisse

Einfacher leben bedeutet für mich kein „Zurück“. Ich will nicht mit einem Steinzeit-Clan in einer Höhle leben. Ich will einfacher, nicht primitiver leben. Einfacher leben geht nach vorne, aber ohne ein „weiter so“.

Einfaches Leben verherrlicht nicht den Mangel, sondern sucht „ein Leben in Fülle“.  All das sage ich als jemand, der satt ist. Einfaches Leben ist ein Aufstand der Satten. Was die Idee nicht schmälert, aber man sollte es klar haben.

Ich lebe an vielen Punkten gar kein „einfaches Leben“. Aber trotzdem ist diese Idee für mich wichtig. Die Bilder, die ich mit einem einfachen Leben verbinde, sind für mich stark und wirksam, sie nähren und beruhigen mich.